Von Dr. Viktor Lau:
Ich habe heute mal in alten Unterlagen, Mitschriften, Entwürfen und verworfenen Musik-Rezensionen gestöbert und ein Interview mit Claudio Abbado (1933-2014), dem noblen Maestro, gefunden, das bislang nicht veröffentlicht wurde:
VL: Lieber Claudio Abbado, Sie haben einige der renommiertesten Orchester der Welt geleitet. Wie definieren Sie Führung?
Claudio Abbado: Für mich bedeutet Führung vor allem, zuzuhören. Ein Dirigent ist nicht einfach jemand, der Befehle gibt. Er ist ein Teil des musikalischen Ganzen, ein Vermittler zwischen den Musikern, der Partitur und dem Publikum. Wahre Führung besteht darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem jeder sein Bestes geben kann.
VL: Viele Dirigenten setzen auf Autorität, Sie hingegen waren für Ihre Offenheit bekannt. Warum dieser Ansatz?
Claudio Abbado: Musik ist keine Einbahnstraße. Ich habe nie an eine strikte Hierarchie geglaubt, in der nur der Dirigent entscheidet. Natürlich habe ich eine Vision für ein Werk, aber die Musiker bringen ihre eigenen Erfahrungen, Emotionen und Ideen mit. Wenn ich ihnen Raum gebe, entstehen Interpretationen, die lebendig sind – keine bloßen Befehle, sondern eine gemeinsame Entfaltung.
VL: Wie motivieren Sie ein Orchester, Höchstleistungen zu erbringen?
Claudio Abbado: Durch Vertrauen. Wenn Musiker spüren, dass sie ernst genommen werden und ihr Beitrag zählt, dann wachsen sie über sich hinaus. Ich fordere viel, aber nicht durch Druck, sondern durch Inspiration. Die Musik selbst ist der größte Antrieb.
VL: Sie haben oft mit jungen Orchestern gearbeitet, etwa mit dem Gustav Mahler Jugendorchester. Wie unterscheidet sich die Führung eines Nachwuchsensembles von der eines Spitzenorchesters?
Claudio Abbado: Junge Musiker sind unendlich neugierig und begeisterungsfähig. Sie bringen eine Frische mit, die inspirierend ist. Hier geht es weniger darum, sie zu kontrollieren, sondern vielmehr, ihnen eine Richtung zu geben, sie auf ihrem Weg zu begleiten. Mit einem Spitzenorchester ist die Arbeit anders – es geht um Nuancen, um die Verfeinerung der Interpretation. Aber in beiden Fällen ist die Essenz dieselbe: gemeinsames Musizieren.
VL: Was können Führungskräfte aus der Wirtschaft von einem Dirigenten lernen?
Claudio Abbado: Zuhören, Vertrauen schenken und das Team in den Mittelpunkt stellen. Ein guter Dirigent – oder Manager – versteht, dass wahre Exzellenz aus Zusammenarbeit entsteht. Man muss die richtigen Menschen zusammenbringen, sie inspirieren und ihnen dann die Freiheit geben, sich zu entfalten.
VL: Sie haben sich nie in den Vordergrund gedrängt. War das eine bewusste Entscheidung?
Claudio Abbado: Ja, denn Musik ist keine Bühne für Eitelkeiten. Der Dirigent ist kein Alleinherrscher, sondern ein Teil des Ganzen. Wenn ich meine Arbeit gut mache, dann spürt das Publikum die Musik – nicht den Dirigenten.
VL: Gibt es eine Führungspersönlichkeit außerhalb der Musik, die Sie inspiriert hat?
Claudio Abbado: Viele! Zum Beispiel Menschen wie Mahatma Gandhi, die durch innere Stärke geführt haben, ohne Lautstärke oder Zwang. Sie haben durch ihr Beispiel inspiriert, nicht durch Befehle. Das ist die Art von Führung, die ich bewundere.
VL: Zum Abschluss: Was ist Ihr wichtigster Rat für jemanden, der eine Gruppe erfolgreich führen möchte?
Claudio Abbado: Liebe, was du tust. Wenn du begeistert bist, dann werden es auch die Menschen um dich herum sein. Führen heißt nicht, andere zu dominieren, sondern sie zu inspirieren.