In deutschen Unternehmen wird nach wie vor so rekrutiert, als gäbe es einen unbegrenzten Pool an Bewerberinnen und Bewerbern. Die Vorstellung, aus einer Vielzahl von Kandidaten die „Besten“ herauszufiltern, prägt viele Auswahlprozesse. Doch die Realität sieht anders aus: Das Erwerbspersonenpotenzial schrumpft. Wer diese Tatsache ignoriert, leidet an „Demographie-Demenz“ – einer gefährlichen Vergesslichkeit, die langfristig die Wettbewerbsfähigkeit bedroht.
Laut IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) wird das Erwerbspersonenpotenzial bis 2060 von derzeit rund 45,7 Millionen auf etwa 40,4 Millionen sinken – ein Rückgang um 11,7 Prozent. Ohne Zuwanderung wäre der Einbruch noch drastischer: Selbst bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 100.000 Personen würde die Zahl auf 38,3 Millionen fallen. Erst eine konstante Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr könnte das Arbeitskräfteangebot stabil halten. Doch die demographischen Herausforderungen lassen sich nicht allein durch Migration lösen.
Trotz dieser alarmierenden Zahlen halten viele Unternehmen an überholten Recruiting-Praktiken fest. Sie verlassen sich weiterhin auf langwierige Bewerbungsprozesse, hohe formale Hürden und eignungsdiagnostische Verfahren, die für Zeiten mit großem Bewerberandrang entwickelt wurden. Die Idee, aus einer Fülle von Talenten „die Besten“ auszuwählen, ist nicht mehr zeitgemäß. In vielen Branchen gibt es schlicht nicht genug Bewerberinnen und Bewerber. Wer weiter auswählt wie bisher, bleibt auf unbesetzten Stellen sitzen.
Die demographische Entwicklung führt dazu, dass sich die Verhandlungspositionen umkehren. Unternehmen müssen sich verstärkt um potenzielle Mitarbeitende bemühen, nicht umgekehrt. Statt auf den „perfekten“ Kandidaten zu warten, sollten Unternehmen sich fragen: Wen können wir weiterentwickeln? Wo können wir Kompromisse eingehen? Statt der reinen Vorauswahl durch formale Kriterien braucht es mehr Bereitschaft, in Weiterbildung und Qualifizierung zu investieren.
Eine Lösung liegt in einer strategisch durchdachten Personalbindung. Wer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen hält, reduziert den Druck auf das Recruiting. Arbeitgeber müssen attraktive Arbeitsbedingungen schaffen – nicht nur durch höhere Gehälter, sondern durch flexible Arbeitsmodelle, gute Weiterbildungsangebote und eine Unternehmenskultur, die Entwicklung ermöglicht. Auch ältere Beschäftigte sollten gezielt eingebunden werden: Altersgerechte Arbeitsplätze und Modelle für ein gleitendes Ausscheiden könnten verhindern, dass Wissen und Erfahrung mit den Babyboomern in den Ruhestand verschwinden.
Auch die Zielgruppenansprache im Recruiting muss sich ändern. Viele Unternehmen fokussieren sich zu stark auf klassische Kanäle und erwarten, dass Bewerbungen von selbst eingehen. Dabei wäre es sinnvoller, aktive Talentgewinnung zu betreiben, potenzielle Kandidaten gezielt anzusprechen und für das Unternehmen zu begeistern. Das bedeutet auch: Employer Branding ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Ein unattraktives oder unbekanntes Unternehmen kann sich im Wettbewerb um Talente nicht behaupten.
Unternehmen, die an der „Demographie-Demenz“ leiden, laufen Gefahr, bald handlungsunfähig zu werden. Der Arbeitsmarkt hat sich grundlegend verändert, doch viele Verantwortliche agieren so, als gäbe es immer noch unendlich viele Bewerberinnen und Bewerber. Wer jetzt nicht umdenkt, wird in den nächsten Jahren noch deutlicher spüren, dass Talentmangel kein kurzfristiges Phänomen ist – sondern eine strukturelle Realität.